Während 3 Wochen habe ich in den timelines täglich über Veränderungen, neue Beschlüsse in der Türkei und Forderungen an das Ausland berichtet. Seit vergangenen Mittwoch sind die Straßendemos beendet, es kehrt also sowas wie Alltag ein. Zu erkennen ist das an den Schlagzeilen der großen türkischen Zeitungen, wo wieder mehr zum Thema gesellschaftlicher Tratsch und Klatsch, bebildert mit leicht bekleideten Damen, vorzufinden sind.
Das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich das gesellschaftliche Klima in der Türkei massiv verändert hat.Parallel dazu findet ein Strukturumbau im Staate statt, welcher in Richtung "alle Befugnisse an Erdogan" gedeutet werden muss. Ich skizziere einige Themen:
Säuberungen:
Diese gehen weiter, allerdings immer häufiger auf Entscheidungsstufe Provinz und Bezirk. Hier wird eine Kritik immer lauter: Unter dem Schlagwort FETÖ werden auch alte politische und persönliche Rechnungen beglichen, welche weder mit Gülen noch mit dem Putsch was zu tun haben. Türkeiweit haben auch diese Woche Tausende ihre Jobs verloren.
National wird auf Türken, welche im Ausland leben und denen man Nähe zu Gülen vorwirft, enormer Druck ausgeübt. Der Fall Hakan Sükür zeigt, dass da durchaus auch das Mittel der Sippenhaft zur Anwendung kommt, indem sein Vater, ein reicher Immobilienhändler auch in Haft genommen und dessen Vermögen beschlagnahmt wird.
Denunzierung mit Folgen für den Alltag
Viele Beamte haben Briefe von den zuständigen Ministerien erhalten, in denen sie aufgefordert werden, ihnen verdächtig vorkommende Mitarbeiter zu melden. Kritiker bescchreiben das Dilemma wie folgt: Wer keine Verdächtigen meldet, macht sich selbst verdächtig...
Damit ist eigentlich alles gesagt. Viele Menschen beginnen zu filtern, was sie in der Öffentlichkeit und in sozialen Netzwerken noch an Meinungen äußern. Die Folgen könnten fatal sein. Es entsteht also ein Klima der Einschüchterung, der Verunsicherung. Politik ist in der Öffentlichkeit nur noch eigeschränkt ein Thema und falls doch, von den Anhängern der AKP.
Erdogan:
- ernennt neu Rektoren von Universitäten im Alleingang
- fordert die Banken am Mittwoch auf, endlich die Zinsen für Geschäfts- und Hypothekarkredite zu senken, ansonsten man diese Institutionen als "Feinde des Staates" betrachten müsse. Ergebnis: Innerhalb von 48 Stunden finden diese Senkungen statt. Kritiker bemängeln, damit werde eine nicht verantwortwortbare Immoblase geschaffen.
- Sonderfonds für Investitionen in Höhe von 250 Mia. TL. Gespiesen aus Geldern der Arbeitslosenkasse (100 Mia), der neuen Rentenkasse (100 Mia) und aus Privatisierungen. Der Fond untersteht keiner parlamentarischen Kontrolle. Die Opposition nennt dies Diebstahl am Volkseigentum.
- "Kleine Verfassungsreform" Unter Ausschluss der HDP beraten derzeit 3 Vertreter von AKP, CHP und MHP eine kleine Verfassungsreform, welche dann später dem Parlament vorgelegt werden soll. Noch ist unklar, worin die Änderungen konkret bestehen sollen. Kritische Kommentatoren unken bereits, dass das Amt des Staatspräsidenten wohl künftig nicht mehr einen Hochschulabschluss als Bedingung verlange. (Erdogan steht deswegen immer noch unter Druck...)
Gülen ist der Schuldige:
Kein Skandal, kein mysteriöser und nicht aufgeklärter Todesfall der letzten 15 Jahre, für den nun nicht Gülen verantwortlich gemacht wird. Angefangen von Turgut Özal (1993), Alparslan Türkes (1997) über Hrant Dink (2007) bis zu Muhsin Yazicioglu (2009): Alles Gülens Werk. Es scheint, als wolle man alle Kellerleichen der letzten 20 Jahre entsorgen, indem man sie dem Buhmann Gülen zuordnet. Diese Form des Reinemachen birgt aber Gefahren:
Immer mehr AKP Minister unter Druck
Der ehemalige Parlamentspräsident Bülen Arinc und drei weitere Minister der vergangenen Legislatur sehen sich mit Untersuchungen konfrontiert, könnten in U-Haft genommen oder angeklagt werden. Gerade Bülent Arinc ist einer der langjährigen Weggefährten, so wie der ehemalige Minister Cicek. Inzwischen ist es so weit, dass Arinc die Möglichkeit nicht ausschließt, von der Gülen-Bewegung missbraucht worden zu sein...
So wird weiter gefragt: Wie lange wird es dauern, bis der letzte Staatspräsident der Türkei, Abdullah Gül, ebenfalls der Mitgliedschaft in diesem Netzwerk bezichtigt wird? Das wird kommen, denn er stand Gülen eigentlich recht nahe. Indiz: In Güls Heimatprovinz Kayseri werden derzeit massivst Leute entlassen, Razzien in Betrieben gemacht, Unternehmer inhaftiert. Dieselbe Frage stellt sich auch bezüglich des ehemaligen Ministerpräsidenten Davutoglu. Wir werden das noch erleben.
Erdogans Glaubwürdigkeitsproblem : Alle sind schuldig- nur er nicht.
In Wirklichkeit ist es so, dass die erwähnten Personen und der ehemalige Staatspräsident bis 2013 ein gut funktionierendes Team um Erdogan herum waren. Selbstverständlich war es so, dass sämtliche Skandale im Zeitraum 2004-2010 (Ergenekon, Balyoz, Kompromittierung von Oppositionspolitiern und Industriellen etc.) der damaligen Regierung Erdogan in die Hände spielten. Man konnte sich dieser Widersacher entledigen, gemeinsam und mit Unterstützung von Gülen..
Nun entledigt sich Erdogan seit 2013 seiner Mitstreiter. Mit Gülen geschieht dies lautstark und mit Gewalt, die politischen Wegbegleiter sehen sich plötzlich in eine Ecke gedrängt und mit Gerichtsverfahren konfrontiert.
Erdogan spielt den Saubermann. Er gibt den großen Aufklärer, der über allem steht, obwohl er mitten drin war. Dieses Spiel mag im Moment funktionieren. Auf Dauer wird ihm diese Rolle, nämlich alleiniger Machtanspruch (ausserhalb der Verfassung!!) aber nicht abgenommen werden, zu viele Leichen säumen seinen Weg. Er war bis 2013 Brandstifter, spielte ab 15. Juli Feuerwehrmann und nun gibt er den unbestechlichen Staatsanwalt und Richter, was die vergangenen 15 Jahre AKP-Regierung betrifft. Mittelfristig kann das nur funktionieren, indem er sich hinter einem eigenen Machtapparat aus Militär und Bürokratie, bestückt mit engen Vertrauensleuten, verschanzt.
Die timeline geht weiter. Ab dieser Woche werden jedoch nur noch Dinge mit Datum gelistet, welche durch Ministerien oder Gesetzesblatt angeordnet oder veröffentlicht werden.
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