Diese Woche war in der Türkei geprägt
von einer neuen Welle von Verhaftungen und Einvernahmen. Dies lief
vor allem unter dem Vorwurf mit dem Kürzel KCK, Bildung einer
kurdischen Gemeinschafts-Verwaltung.
Seit drei Tagen finden sich unter den
Vorgeladenen auch die Spitzen des Geheimdienstes MIT, darunter der im
Jahre 2010 von der Regierung ernannte Geheimdienstchef....... .
Dieser weigert sich, vor dem Sonderstaatsanwalt Sadrettin Sarıkaya, welcher diese
Untersuchungen leitet, auszusagen.Vorwurf: Konspiration, Kooperation
mit terroristischen Vereinigungen, Fehlverhalten, indem nicht
reagiert worden sei, wo hätte reagiert werden müssen. Dies die
allgemein gehaltenen Anklagepunkte. Inzwischen hat der Untersicherungsrichter die Verhaftung dieser Leute angeordnet.
Worum geht es? Seit 2009 führt
der MIT
im Auftrag der Regierung in Oslo mit Vertretern der PKK
Geheimverhandlungen über eine demokratische Lösung des
Kurdenproblems sowie über die Zukunft des PKK-Führers Abdullah
Öcalan, welcher auf einer Insel in Einzelhaft steckt.
Verhandlungspunkte waren unter Anderem: Akzeptanz von Kurdisch als
zweite Landessprache, möglicherweise auch Umwandlung der
lebenslangen Haftstrafe Öcalans in Hausarrest. Diese Verhandlungen
sind im Laufe des Jahres 2011 mehr oder weniger gescheitert, was ein
Wiederaufflammen des bewaffneten Kampfes zur Folge hatte. Die
Regierung hat bereits vor einem Jahr diese Verhandlungen bestätigt
und als Alternative zur militärischen Dauerauseinandersetzung
bewertet. Ein Versuch, den sie heute als gescheitert bezeichnet.
Bemerkenswert ist, dass nun aus dem
Regierungslager und von Seiten des Staatspräsidenten scharfe
Proteste gegen das Vorgehen des Staatsanwaltes in Sachen MIT
geäussert werden. Regierungschef Erdogan selbst hält sich noch
ziemlich bedeckt, doch zeigen die folgenden Vorgänge der letzte 48
Stunden, dass die Regierung selbst sich angegriffen fühlt und
reagiert:
- Im Schnellzugstempo wurde im Parlament eine Vorlage eingebracht, welche die Einzelkompetenzen von Sonderstaatsanwälten beschneiden soll.
- Mehrere hohe Funktionäre aus dem Bereiche Polizei und Jandarma wurden per sofort von ihrem Amte frei gestellt.
Spekuliert wird nun, wer denn hinter
diesen neuen Aktivitäten stecken könnte. Sind es erneut Leute aus
dem Umfeld der ehemaligen Aktivistengruppen aus Militär, Gerichten
und Parteien, welche sich dafür einsetzen, dass das Erbe Atatürks
auf immer und ewig in der Türkei zementiert bleiben soll und jedes
Abweichen davon Landesverrat gleich kommt? Diese Thematik und diese
Leute haben die politische Agenda 2004 bis 2008 massgeblich bestimmt
und werden derzeit unter dem Stichwort Ergenekon in einem immer
unüberschaulich werdenden Monsterprozess irgendwann mal zur
Verantwortung gezogen.
Handelt es sich um eine Machtprobe der
Anhänger von Fethullah Gülen, einem in den USA lebenden und
einflussreichen religiösen Führer, über dessen grossen Einfluss
immer wieder spekuliert wird ? Dieser Bewegung wird nachgesagt, sie
unterwandere seit Jahren aktiv Justiz und Polizei.
Schwächen im Justizsystem
Ergenekon und die
jetzigen KCG-Verfahren zeigen vor allem etwas: Das türkische
Rechtssystem bietet Interessengruppen, so sie einmal in den richtigen
Position oder der Regierungsverantwortung stehen, reichlich
Spielraum, Kritiker und missliebige politische Gruppierungen mit
Pauschalvorwürfen in Untersuchungshaft zu nehmen, ohne dass auch
Anklage erhoben werden muss. Diese Aufbewahrung kann bis zu 5 Jahren
dauern, erst dann muss der Beschuldigte freigelassen werden, falls er
bis dann nicht rechtskräftig verurteilt ist. Das Problem, welches
dadurch entsteht ist, dass so genannte präventive Verhaftungen
vorgenommen werden können. Jemand wird eines Vergehens wie
„Landesverrat“ beschuldigt und je nach Einstellung des die
Untersuchung führenden Staatsanwaltes entweder befragt und bis zur
Aufnahme der Verhandlungen eben wieder freigelassen, oder aber in
Haft genommen – bis zu 5 Jahren.
Diese Problematik
ist seit Jahrzehnten bekannt. Jede Regierung verspricht diesbezüglich
Reformen, doch ist substantiell noch nichts Konkretes passiert. Der
Grund ist offensichtlich: Kriegt man es irgendwo mit einem starken
politischen Gegner zu tun, so ist es weiterhin möglich, ihn auf dem
Rechtsweg für einige Jahre aus dem Verkehr zu ziehen. Ähnliches
geschieht mit Journalisten, welche kritische Meinungen oder
pro-kurdische Positionen (nicht zu verwechseln mir pro-PKK) beziehen.
Sie müssen sich dann unter dem Generalvorwurf der „Unterstützung
einer terroristischen Vereinigung“ vor der Justiz verantworten,
respektive in der Untersuchungshaft schmoren, ohne dass sie eine
griffige Anklageschrift zu Gesicht kriegen, ohne dass die Anwälte
Akteneinsicht kriegen. In dieser Zeit wird dann die Anklageschrift
faktisch dokumentiert, werden neue Gesichtspunkte eingebracht, wobei
sowohl der Angeklagte wie auch dessen Anwälte von diesen Abläufen
ausgeschlossen sind. Etwas, was im europäischen Rechtssystem eine
Verhaftung und Untersuchungshaft erst rechtfertig, findet hier
vielfach erst statt, nachdem die beschuldigte Person in
Untersuchungshaft steckt. Diese Besonderheiten prägen vor allem
politische Prozesse.
Eines der grossen
Versäumnisse der Regierung Erdogan besteht darin, dass sie es
innerhalb von 10 Jahren nicht geschafft hat, dieses heikle Thema zu
lösen. Die Tatsache, dass in einem Gesetzesvorschlag die maximal
zulässige Untersuchungshaft um ein Jahr reduziert werden soll, zeigt
deutlich, wie gross das Interesse an einer wirklichen Justizreform in
Wirklichkeit ist..
Nun wird sie
offenbar selbst Opfer von Interessengruppen und hebelt nun im
Schnellzugstempo ein neues Gesetz durch das Parlament, welches
künftig Staatsanwälten derart weit reichende Kompetenzen entziehen
soll. Alleine dieser Vorgang wirft natürlich zum Thema Justiz viele
Fragezeichen auf.
Sehr guter Artikel, Glückwunsch!
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