Morgen treffen sich im türkischen Belek die G-20 zu einem Gipfel. Thema werden sein Flüchtlinge und Terror, nach den Anschlägen in Frankreich natürlich von ganz besonderer Brisanz. Die üblichen G20-Themen werden in den Hintergrund treten. Liest man die verschiedenen Vorankündigungen zu diesem Gipfel, so scheint eine "Einigung" zwischen EU und der Türkei - sprich Erdogan! - bevorzustehen. Davon wird man jedoch erst sprechen können, wenn Erdogans Forderungskatalog, den ich hier schon vor einem Monat vorgestellt habe, erfüllt sein wird.
Mehrere Punkte dieses Katalogs werden derzeit den Wünschen Erdogans entsprechend "abgearbeitet":
- Wie schon angekündigt hat der türkische Staatspräsident die Entschädigungsforderung von 1 Mia € hochgeschraubt auf 3 Mia €. Die EU sagt dies zu, scheint aber noch nicht zu wissen, wie sie das finanzieren soll. Damit wird nicht Schluss sein. Erdogan wird dies als jährlich wiederkehrende Kosten bezeichnen.
- Beitrittsverhandlungen sollen weiter gehen. Welche Dossiers geöffnet werden sollen, dürfte nach oben noch steigerungsfähig sein.
- Erleichterte Visa: Darüber wird in der Öffentlichkeit wenig gesprochen, ist auch für die EU selbst wohl eine Zerreißprobe.
- Nordzypern: Ist ein Thema bei EU und NATO. Die EU ist bereit, darüber zu sprechen. Worüber konkret, sagt sie nicht.
Was die EU als Gegenleistung erhält, ist derzeit völlig offen. Seit dem Besuch der Kanzlerin vor einem Monat hat sich in der Türkei, was Flüchtlinge betrifft, nichts geändert. Weiterhin verlassen täglich Tausende ungehindert die Türkei, sterben täglich Flüchtlinge in der Ägäis und machen Schlepper unbehelligt ein Riesengeschäft mit dem Tod.
Auf welcher Seite steht eigentlich Erdogan?
Vielleicht sollte darüber mal ganz sachlich debattiert werden. Es gibt bis heute keine klare Verurteilung des IS durch Erdogan und wenn er sie brandmarkt, passiert dies nicht, ohne gleichzeitig die Kurden und Linksextreme in denselben Topf zu werfen. Es ist aber kein Geheimnis, dass der IS sich in Syrien und Irak durch die Türkei geduldet und unterstützt ausbreiten konnte. Dazu einige Fakten:
- Bis 2013 finden sich jede Menge Meldungen wie diese hier: Behandlung verletzter IS-Kämpfer, logistische Unterstützung, Waffentransporte, IS-Koordinationsstellen auf türkischem Territorium, usw. usw.
- Aus einer offensichtlichen Selbstüberschätzung der eigenen Position wurde versucht, verschiedene, teilweise verfeindete und im Ansatz extremistische Lager an einen Tisch zu bringen und auf die Seite der Türkei zu ziehen. Ziel, mögliche Stellvertreterkriege in Syrien (gegen Assad), im Irak (gegen eine kurdische Dominanz), in Aegypten gegen die Regierung und rund um Israel als diplomatisches Dauersperrfeuer gegen Israel.
- Das, was der Westen als arabischen Frühling wahr nahm, hatte für Erdogan einen völlig anderen Stellenwert. Er und Davutoglu sahen darin die Möglichkeit der islamisch-politischen Einflussnahme. Dabei unterstützten sie ganz seltsame Gruppierungen.
- Die Türkei schreckte auch vor massiven Provokationen nicht zurück.
- Spätestens 2014 war klar, dass sich Erdogan mit der ISIS und dem "schnellen Sturz" Assads total verschätzt hatten. Er spielte zu dieser Zeit die Karte Destabilisierung von Nachbarstaaten. Wie wir heute wissen, ging dieser Schuss nach hinten los. Das Resultat ist ein Chaos. Aber noch immer fehlt eine deutliche Distanzierung Erdogans zum IS, Im Gegenteil!
- Innenpolitisch selbst unter Druck und mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten kämpfend, wurden ganz offensichtlich die Grenzkontrollen gelockert, konnten sich Schleuserbanden in der Türkei breit machen und ein sehr lukratives Business aufziehen, ohne dass sie bis heute von der Polizei daran gehindert würden, wenn man von einigen symbolischen Festnahmen absieht. Erdogan spielt seit März 2014 ganz klar die Karte Flüchtlinge nach Europa. Mit Erfolg, wie wir sehen, wirkungsvoll.
Das Erdogan-Süppchen, welches morgen serviert wird:
- Es ist ein völliger Zufall, dass genau jetzt die Kurden-Stadt Silvan im Südosten der Türkei durch das Militär abgeriegelt und "gesäubert" wird, während zum selben Zeitpunkt die kurdischen Peschmergas (mit Luftunterstützung der USA- aber nicht der Türkei!) und mit starker kurdischer Unterstützung die Verbindungslinie der IS vom Irak nach Syrien unterbrechen und die Stadt Sindschar von der IS zurückerobern.
- Genau so ist es rein zufällig, dass Erdogan morgen erneut seine Forderung nach einem entmilitarisierten Gürtel entlang der syrischen Grenze präsentieren wird - einem der Hauptdurchzugsgebiete der IS auf dem Weg in den Irak und derzeit, wie oben beschrieben, umkämpft. Die Türkei ihrerseits will da nun Bodentruppen einsetzen-aber natürlich nur "im Auftrag und Einverständnis" von NATO und UNO.
- Große diplomatische Kiste also, bei der es Erdogan lediglich darum geht, die Kurden im Nordirak und in Syrien zurückzudrängen und endlich Assad wegzukriegen (und damit die Nato in einen Russland-Konflikt zu ziehen....)
- Die Tatsache, dass Erdogan seit 2013 völlig ungerechtfertigt versucht, die NATO in diesen von der Türkei aktiv befeuerten Konflikt zu involvieren, verblasst jedoch angesichts der aus europäischer Sicht viel drängenderen Flüchtlingsproblematik. Diese Bemühungen werden morgen fortgesetzt und alle wissen das, machen gute Miene zum bösen Spiel.
So verleugnet sich Europa wider besseres Wissen selbst, einzig und alleine deswegen, weil man Druck aus der Flüchtlingsthematik nehmen will/muss.
Vielleicht wäre es weitsichtig kluger, wenn sich die EU dahinter macht, ihre Energieabhängigkeit vom Durchgangsland Türkei so schnell wie möglich abzubauen, sich neu zu orientieren. Dann eröffnen sich völlig neue Verhandlungspositionen. Auch das ist unbestritten, aber bisher ausgeblendet, so wie bis vor Kurzem das Thema Krieg in Syrien und die Rolle der Türkei in diesem Konflikt...
So bleibt die Situation: Erdogan zitiert die EU zum Rapport. Ungesund und politisch erbärmlich, würde ich das nennen.
Der Kommentar wurde von einem Blog-Administrator entfernt.
AntwortenLöschen