Die
momentane wirtschaftliche Situation und Potenz der Türkei erscheint
auf den ersten Blick beeindruckend, wenn man auf die offiziellen
Zahlen des statistischen Amtes und die Publikationen verschiedener
Finanzjournale abstützt. Trotzdem müssten diverse Punkte etwas
genauer hinterfragt werden und dann scheint die Eisdecke, auf welcher
die türkische Wirtschaft wandelt, gefährlich dünn und brüchig.
Dazu einige Beispiele:
Es
ist nirgendwo ersichtlich, welchen Anteil die Privatwirtschaft und
welchen Anteil der Staat an diesem Wachstum haben. Diese Frage müsste
bei allen Branchen, also auch im Tourismus, gestellt werden. Das
ungebremste Wachstum in diesem Bereich rührt vor allem daher, dass
vom Staate sehr lukrative Kredite zu holen sind, welche dann
irgendwann und irgendwie zurückbezahlt werden müssen. Derzeit
kriegt man vom türkischen Staate im Bereiche 5-Stern-Neubau pro Bett
bis zu 38 000 Dollar Vorzugskredite, welche dann nach 5 Jahren
zurückbezahlt werden sollten. Das alles ändert nichts daran, dass
die tatsächlichen Einnahmen aus dem Tourismus trotz zweistelliger
Wachstumsraten mehr oder weniger auf denselben Werten verharren, die
Wertschöpfung Gast/Woche also koninuierlich sinkt. Indem nun für
2011 eine andere Berechnungsrundlage eingeführt wurde, welche
plötzlich Steigerungen im zweistelligen Bereich ausweist, ändert
sich an der Realität überhaupt nichts. Quelle
Im
Bereiche Wohnungsbau ist
der türkische Staat der inzwischen wohl grösste Bauherr landesweit geworden, wenn man auf errichtete Wohneinheiten abstützt. Auch diese Form des vermeintlich günstigen Wohnens ist jedoch genauer zu hinterfragen. Wohl löst es weiteres Wachstum im Bereiche Möbelindustrie und Weisswaren aus, doch ist die Art und Weise, wie derartige Wohnungen finanziert werden, hochproblematisch und führt viele Familien, welche sich zu einem derartigen Wohnungskauf entschieden haben, geradewegs in die Schuldenfalle. Der Grund: Mit einem Eigenkapital von weniger als 5% wird ein monatlicher Tilgungsplan auf 10 oder 15 Jahre unterschrieben. Ein Bestandteil dieses Planes ist, dass die zu bezahlenden Raten bei Beamten, Festangestellten an allfällige Lohnerhöhungen (diese finden wiederum inflationsbezogen statt), gekoppelt werden. So entsteht die seltsame Situation, dass der Käufer einer solchen Wohnung im Werte von z.B 60 000 TL heute nach zwei Jahren Amortisation (inflationsbereinigt) auf Schulden von über 70 000 TL sitzt. Eine ziemlich auswegslose Situation, da auch die Lebenshaltungskosten derzeit weit über dem ausgewiesenen Inflationswert steigen. Gerade an diesem Beispiel müsste auch gefragt werden, wie denn diese Zahlen in den Bilanzen verbucht werden, denn indem lediglich ein Vertrag unterschrieben wurde, ist noch längst nicht garantiert, dass diese Einnahmen tatsächlich auch erfolgen werden. Kein Unternehmer könnte es sich leisten, ein Wohnvolumen von über 500 000 Einheiten über wenige Jahre aus dem Boden zu stampfen und mit 5% anzufinanzieren.
der türkische Staat der inzwischen wohl grösste Bauherr landesweit geworden, wenn man auf errichtete Wohneinheiten abstützt. Auch diese Form des vermeintlich günstigen Wohnens ist jedoch genauer zu hinterfragen. Wohl löst es weiteres Wachstum im Bereiche Möbelindustrie und Weisswaren aus, doch ist die Art und Weise, wie derartige Wohnungen finanziert werden, hochproblematisch und führt viele Familien, welche sich zu einem derartigen Wohnungskauf entschieden haben, geradewegs in die Schuldenfalle. Der Grund: Mit einem Eigenkapital von weniger als 5% wird ein monatlicher Tilgungsplan auf 10 oder 15 Jahre unterschrieben. Ein Bestandteil dieses Planes ist, dass die zu bezahlenden Raten bei Beamten, Festangestellten an allfällige Lohnerhöhungen (diese finden wiederum inflationsbezogen statt), gekoppelt werden. So entsteht die seltsame Situation, dass der Käufer einer solchen Wohnung im Werte von z.B 60 000 TL heute nach zwei Jahren Amortisation (inflationsbereinigt) auf Schulden von über 70 000 TL sitzt. Eine ziemlich auswegslose Situation, da auch die Lebenshaltungskosten derzeit weit über dem ausgewiesenen Inflationswert steigen. Gerade an diesem Beispiel müsste auch gefragt werden, wie denn diese Zahlen in den Bilanzen verbucht werden, denn indem lediglich ein Vertrag unterschrieben wurde, ist noch längst nicht garantiert, dass diese Einnahmen tatsächlich auch erfolgen werden. Kein Unternehmer könnte es sich leisten, ein Wohnvolumen von über 500 000 Einheiten über wenige Jahre aus dem Boden zu stampfen und mit 5% anzufinanzieren.
Sehr
viel Geld wird weiterhin im Strassenbau investiert und leider auch in
den Sand gesetzt. Ein krasses Beispiel ist die sich seit 10 Jahren im
Bau befindliche Erweiterung der D-400 zwischen Gazipasa und Silifke.
Hier wurden Millionen im dreistelligen Bereiche auf Grund falscher
Planung oder ungenügender geologischer Abklärungen in den Sand
gesetzt und es müssen teilweise völlig neue Lösungen erarbeitet
werden.. Ähnliche Probleme zeigen sich bei der Schwarzmeerautobahn.
Viele
Grossinvestitionen werden privatisiert realisiert. Die unmittelbaren
und die Folgekosten sind von den Konsumenten zu tragen und diese
wiederum kann der Betreiber ziemlich willkürlich festsetzen.
Krassestes Beispiel ist das geplante AKW in Akkuyu/Mersin. Die
einzige Bieterfirma, welche an der öffentlichen Ausschreibung
teilgenommen hat, war die russische ROSATOM, welche hier nun 4
Reaktoren bauen und (vor)finanzieren soll. Der türkische Staat
verpflichtet sich im Gegenzug, rund 2/3 der gesamten produzierten Energie während
15 Jahren zum Preis von 12 US Cent/KWh (ursprünglich wollte die
Firma 20 Cent!) abzunehmen. Seit dieser Absprache hat die Lira
gegenüber dem Dollar um über 25% an Wert eingebüsst und nach
heutigem Kurs würde also ein Kilowatt Atomstrom 0,22 TL kosten, dies
bei derzeitig 0,18 TL Konsumentenkosten/KWh. So gibt es eine ganze
Reihe von Grossprojekten, welche letztlich auf Jahrzehnte hinaus und
kumuliert durch die Konsumenten zu refinanzieren sind und hier stellt
sich die Frage, wieviel stärker die privaten Haushaltsbudgets
überhaupt noch belastet werden können.
Wohin
geht die Reise der türkischen Lira?
Vor
rund 4 Monaten liess der türkische Wirtschaftsminister nach ersten
Wertverlusten der TL verlauten, man befinde sich auf dem Wege einer
gezielten TL-Abwertung. Sicherlich mag dabei die Hoffnung mitgespielt
haben, dadurch die Exportchancen und Produktionsstandortvoreile der
Türkei zu verbessern. Nur, während damals eine Dollar-Obergrenze um
1.60 , später von 1.70 TL festgesetzt wurde, so liegt er heute bei
1.90 TL. Man kann also bezweifeln, dass diese Entwertung kontrolliert
stattfindet, denn gerade die dollarbasierten Einfuhrkosten von Erdöl
und Erdgas treiben die Lebenshaltungskosten natürlich extrem nach
oben. Mit 1.8 € pro Liter bleifrei dürfte die Türkei weltweit
Spitze sein und wenn man bedenkt, dass das beliebteste Reisemittel
weiterhin Busse sind, dass der Grossteil aller Güter auf der Strasse
transportiert wird, so kann man alleine daran schon ablesen, wie
fatal sich ein weiterer Lira-Zerfall alleine in diesem Sektor
auswirken muss.
Gewinne
über ausufernden Zwischenhandel
Ein
weiterer Teil des Wachstums , welches vielfach auch auf Grund der
Gewerbesteuer errechnet wird, besteht in einer Explosion des
Zwischenhandels. Immer mehr Produkte werden in der Türkei über ein
mehrstöckiges Händlersystem zum Endverbraucher gebracht und hier
ist ganz klar der Staat dank Umsatzsteuer der grosse Gewinner, die
Konsumenten dagegen die Leid Tragenden. Dies führt dazu, dass
beispielsweise die Bauern der Region für ein Kilo Erdbeeren seit
Jahren je nach Saison und Qualität zwischen 1,20 und 1,60 TL
erhalten, während die Preise für 500 Gramm Erdbeeren in den
Fachgeschäften auf über 5 TL explodieren. Die erzielten
Produzentenpreise decken jedoch die Kosten nur noch zum Teil, da die
Kosten für Dünger und Schädlingsbekämpfungsmittel in den
vergangenen Jahren um ein Mehrfaches gestiegen sind, und so ist es
eine Frage der Zeit, bis dieser Sektor erodiert. Überleben kann nur
noch, wer auf eine grosse Familie, welche unentgeltlich mitarbeitet,
zählen kann. Selbst die Auszahlung von Minimallöhnen würde dieses
Geschäft unattraktiv machen. Ein weiteres vergleichbares Beispiel
ist Fleisch, welches aus diesem Grunde langsam aber sicher von den
Speisekarten in ländlichen Regionen verschwindet, durch
Hühnerfleisch oder eben vegetarische Angebote ersetzt wird. Bei
Kilopreisen von 22 TL für Hackfleisch kein Wunder. Für viele
Menschen bedeutet dies mehr als einen Tageslohn.
Soziales:
Obiges
Beispiel zeigt, dass viele Produkte, welche wir in Europa in einen
ganz normalen Warenkorb hineinrechnen, in der Türkei Luxusartikel
geworden sind und nur noch von Teilen der Bevölkerung überhaupt
gekauft werden können. Dazu muss man Lohngefüge und soziale
Leitlinien wie Bedürftigkeits- und Armutsgrenze miteinbeziehen, wie
ich in einem früheren Beitrag schon beschrieben habe. Wenn man nun
die Lohnentwicklung im Bereiche Mindestlöhne und Beamtenlöhne über
10 Jahre verfolgt, so haben sich die gesetzlichen Grundeinkommen
knapp verdoppelt, während die Löhne von Beamten und Lehrern beinahe
um das Dreifache gestiegen sind. Trotzdem ist es so, dass selbst zwei Lehrerlöhne (ein Lohn gegenwärtig 1800 TL brutto, netto ca. 1350 TL) nicht
ausreichen, um eine Familie mit 2 Kindern im Rahmen des definierten
Existenzminimums von 3100 TL (Ernährung, Ausbildung, Miete,
Versicherung, Kleidung) zu versorgen. Alleine die monatlich
errechneten Kosten für Ernährung betragen nach neuesten
Berechnungen 940 TL. Die Vergleichszahlen des Vorjahres: 2826 TL ,
867,8 TL. Vom gesetzlichen Grundlohn mit brutto 859 TL (netto
ausbezahlt 649TL) wollen wir schon gar nicht sprechen. Quelle Auch nicht darüber, dass das statistische Amt das durchschnittlich Haushaltseinkommen für 2011 mit 22063 TL berechnet... Quelle Somit liegt der durchschnittliche türkische Haushalt um über 14 000 TL hinter dem zurück, was als erforderliches Haushaltseinkommen errechnet wurde.
In
krassem Gegensatz dazu stehen die Erhöhung der Rentenansprüche für
ehemalige Parlamentsabgeordnete um mehr als 35% auf 7 300 TL
monatlich, Lohn von aktiven Parlamentsabgeordneten auf 11 500 TL,
welche vor Kurzem beschlossen wurde. Oder: Chauffeure für Ministerien und Ämter, welche als Beamte bis zu 2 300 TL verdienen, während ihre Kollegen mit Normalvertrag auf knapp 1500 TL kommen. Wer nun die Türkei ein bisschen besser kennt, weiss, dass kein Beamter der Telefongesellschaft, des Waldministeriums, des Finanzamtes ein Auto selbst lenkt. Nein, dafür gibt es einen Chauffeur. So zählt die Türkei unter anderem zu einem der Länder mit dem grössten Staatsfuhrpark überhaupt. Ein Heer von Chauffeuren gehört dazu.
Neben
dem schon länger bekannten Stadt- Land-Gefälle entstehen hier
Lohnkategorien, welche rational nicht mehr zu begründen sind,
soziale Zeitbomben. Zugleich kämpft die Türkei gegen eine
chronisch hohe Arbeitslosigkeit, auch wenn diese statistisch gar
nicht so hoch ausgewiesen ist. Hier gibt es
erwähnenswerte, gleichzeitig zu hinterfragende Massnahmen des
Staates. Jährlich werden gesamthaft Zehntausende von Leuten von
verschiedensten Ministerien zu Minimallöhnen für Hilfs- und
Reinigungsarbeiten eingestellt. Das ist allerdings zeitlich
befristet, 4 – 8 Monate und anschliessend haben sie Anspruch auf
4-6 Monate Arbeitslosenentschädigung und werden durch neue Leute
ersetzt. Es ist eine bittere Realität, dass sich auf viele dieser
Jobs Besitzer von Universitätsdiplomen melden, welche nach
abgeschlossener Ausbildung schlicht und einfach keine Arbeit finden.
Auf eine Stelle kommen locker gegen 100 Bewerber.
Was
bleibt, ist, sich zu verschulden und so lange die erteilten
Kreditlimiten regelmässig erhöht und durch Umschuldung auf längere
Zeiträume erstreckt werden, so lange kann konsumiert werden. Falls
aber wirkungsvoll gegen diese Kleinkreditschulden vorgegangen werden
sollte, kommen sehr viele Kreditkarteninhaber und deren Familien in
wirklich existenzielle Nöte. 2012 wird sich weisen, ob sich die
geplante zentrale Verwaltung im Kreditkartenwesen mit definierten
Kreditlimiten pro Person und nicht pro Kreditkarte wird realisieren
lassen. Dies bedeutet nämlich, dass verschiedenste Lohnempfänger
ihre Kreditkarten-Schulden von teilweise über 20 000 TL auf unter
5000 TL reduzieren müssen, ansonsten die Karten gesperrt werden und
kein neues Geld mehr bezogen werden kann.
Wirtschaftsfachleute müssten also auch in der Lage zu sein, die Frage zu beantworten, wie hoch die Cash-Einnahmen des Staates ohne ausserordentliche Privatisierungen sind und nicht die in den Büchern stehenden Schulden, welche noch eingetrieben werden müssen. Daran erst kann die wirtschaftliche Verfassung und Stabilität des Staates wirklich gemessen werden.
Als
nächste grosse Reform, welche an den Geldbeutel gehen wird, ist die
angekündigte Aufhebung der Yesil-Kart, der grünen Karte, welche
sozial schwach Gestellte beantragen können. 9,1 Mio Besitzer dieser Karte (und teilweise deren Familien) erhalten Anspruch auf weitgehend unentgeltliche ärztliche
Behandlung, auch Bezug von Medikamenten. Dies hat zu einer Explosion
der Gesundheitskosten geführt, welche vom Staate 2009 mit rund 45
Mia TL bezuschusst wurden. Die Berechtigung für Unterstützung durch
den Staat soll künftig in Form von vierteljährlichen neuen Anträgen
erfolgen. Hier müssen sich die Familien über ihr Gesamteinkommen
und Besitztümer amtlich ausweisen. Wer über einem noch
festzusetzenden Mindesteinkommen liegt, hat künftig monatlich 200 TL
aus der eigenen Tasche für eine neu gegründete Familienversicherung
zu bezahlen. Ebenfalls neu eingeführt wurden höhere Selbstbehalte
und Fallpauschalen bei Arztbesuch, welche durch die Kranken selbst zu
begleichen sind. Alleine diese Massnahme wird für die betroffenen Menschen
und deren Familienmitglieder angesichts der oben erwähnten Löhne einschneidende Folgen haben.
Fazit
dieser Entwicklung:
Im
Verlaufe der vergangenen Jahre gibt es eine Minderheit, welche es
geschafft hat, dank guten Jobs, erfolgreichem Unternehmertum und/oder Beziehungen lohnmässig von
diesem Wirtschaftsaufschwung zu profitieren. Ein Heer von normalen
Beamten und Angestellten hat jedoch trotz vermeintlicher
Lohnsteigerungen einen Kaufkraftverlust zu beklagen, welcher durch
erhöhte Schuldenaufnahme kompensiert wird. Daneben leben über 50%
der erwerbstätigen Bevölkerung in Arbeitsverhältnissen mit allenfalls gesetzlichen Mindestlöhnen oder Teilzeitlarbeit bis hin zum Taglöhner, oder aber sie
betreiben selbst ein kleines Geschäft, versuchen sich damit über
Wasser zu halten oder leben von Landwirtschaft/Selbstversorgung. Diese Situation wird sich in den kommenden Jahren
verschärfen und könnte zu grossen innenpolitischen Spannungen
führen.
Das alles muss zusätzlich unter dem Gesichtspunkt betrachtet werden, dass die fetten Privatisierungsjahre vorbei sind, welche jährlich Milliarden in die Staatskasse gespült haben. Ein letzter dicker Brocken dürfte die Umwandlung von so genanntem 2-B Land, Staatsland, in Privatland werden. Hier werden nochmals Milliardeneinnahmen im dreistelligen Bereich erwartet. Anschliessend aber müssen die Einnahmen zum Unterhalt alleine des gewaltigen Staatsapparates aus regulären Steuern erfolgen. Dies führt zur Frage, wann denn die allgemeine Steuerpflicht wirklich kommt. Das dürfte noch ein langer Weg sein.
Zugleich ist hervorzuheben, dass die Türkei im Laufe der vergangenen 10 Jahre in Sachen Infrastrukturen und Fortschritt im wirtschaftlichen Bereich, aber auch bezüglich Lebensstandards enorme Fortschritte gemacht hat. Das alles geschah im Schnellzugstempo und nun stellt sich wohl die Frage, wie dieses gedrosselt werden kann, ohne dass dabei gleich der ganze Zug entgleist. Wird es nicht gedrosselt, droht bei der nächsten Kurve dasselbe Schicksal.
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