Dieser Tage ist die
Türkei wieder einmal sehr gespalten. Ausdruck dafür sind auch
schwere Demonstrationen in Ankara, weitere dürften folgen. Anlass
sind zwei Ereignisse:
Der Progrom von Sivas:
Hier geht es um
Ausschreitungen gegen Aleviten, welche anlässlich einer
Zusammenkunft in Sivas bedrängt wurden. Anschliessend wurde das
Hotel, in welchem viele der Teilnehmer nächtigten, in Brand
gesteckt. Dabei kamen 37 Menschen ums Leben. Mehr dazu hier.
Schnell waren Täter
festgenommen und kurze Zeit später wurden auch Verfahren gegen
insgesamt etwa 50 Leute aufgenommen. Das war vor 19 Jahren. Nun
hat das zuständige Gericht beschlossen, das Verfahren sei einzustellen, da verjährt, was sofort Demonstrationen nach sich zog, welche mit massiver Polizeigewalt aufgelöst wurden.
hat das zuständige Gericht beschlossen, das Verfahren sei einzustellen, da verjährt, was sofort Demonstrationen nach sich zog, welche mit massiver Polizeigewalt aufgelöst wurden.
Bildungsreform:
Hier geht es um eine
gross angekündigte Reform, welche derzeit in der vorbereitenden
Kommission im Detail ausgearbeitet werden soll. Die regierende AKP
beabsichtigte in ihrem ersten Vorschlag, ein so genanntes 4+4+4
System einzuführen, wobei nach den ersten 4 Jahren Wahl und Form
der Schule frei gestellt worden wären. Dies wurde dann insofern
nachgebessert, als 4+4 obligatorisch definiert wurden, allerdings
mit einigen weichen Zusätzen. So sollten auch die Imam
Hatip-Schulen den öffentlich rechtlichen Schulen gleich gestellt
werden.
Für die ersten 5
Paragraphen dieser Schulreform benötigte man 5 Sitzungstage – zu
lange befand Erdogan und kündigte an, bis zum Wochenende sei diese
Reform durchberaten. Das geschah dann auch, indem in der darauf
folgenden Kommissionssitzung eine grosse Anzahl AKP- Mitglieder den
Saal füllten und die Mitglieder der Opposition praktisch gar keinen
Zugang mehr hatten. Tätliche Auseinandersetzungen waren die Folgen,
während derer der Vorsitzende der Kommission die 19 restlichen
Paragraphen herunterlas und innerhalb einer halben Stunde genehmigen
liess.
Gerade das Thema Bildungsreform zeigt, dass viele der Reformen in der
Türkei derzeit auf
präsidiale Anweisung erfolgen, die Auseinandersetzung weniger
inhaltlicher, sondern vielmehr
ideologischer Art ist und somit auch gefragt werden muss, was sich
denn nun im türkischen
Schulwesen tatsächlich ändert. Ausserdem erlauben es die
Mehrheitsverhältnisse im Parlament,
aber auch die desolate Verfassung der CHP als wichtigste
Oppositionspartei der Regierung,
ohne irgendwelche Rücksichtnahme ihre Programme durchzudrücken.
Wieder wäre die EU-
Erweiterungskommission gefordert, indem derartigen Vorkommnissen in
aller Deutlichkeit entgegengetreten wird.
Dass dieser Druck zweifellos wirkt, zeigt die Freilassung der beiden
seit 375 Tagen in
Untersuchungshaft sitzenden Journalisten Ahmet Şık und Nedim Şener, denen
Mitgliedschaft in einer
terroristischen Organisation und Teilnahme an umstürzlerischen
Umtrieben vorgeworfen
wurde.Vor zwei Tagen wurden sie und zwei weitere Journalisten
entlassen, was nicht
gleichzeitig Abschluss des Verfahrens bedeutet, wie Regierungschef Erdogan betonte.
Stein des Anstosses: Ein Buch, in welchem die Unterwanderung der
Polizei durch Leute aus
dem Umfeld von Fetullah Gülen beschrieben wurde und als Nächstes
möglicherweise auch der
staatliche Geheimdienst im Visier Gülens stehe.
Nachdem
dann tatsächlich MIT-Leute mit eigentümlichen Vorwänden zu
Einvernahmen geladen
wurden, änderte das Parlament innerhalb von 2 Tagen ein Gesetz in
dem Sinne, wonach künftig
derartige Einvernahmen nur noch mit Einverständnis des
Ministerpräsidenten geführt werden
können. Gleichzeitig wurden eine grössere Anzahl ranghoher
Polizeibeamter versetzt..
All diese Beispiele haben etwas gemeinsam: Trotz aller bisherigen
Gesetzesreformen,
Öffnungen in Richtung Demokratie etc., ist es auch nach 10 Jahren
AKP nicht gelungen, solide,
verlässliche gesetzliche Grundlagen zu schaffen, welche einen
nachhaltig funktionierenden
Parlamentsbetrieb ermöglichen. Noch immer ist es so, dass
regierende Parteien ihre Positionen
und Anliegen durchsetzen, indem vorgängig kleine Gesetzeskorrekturen
vorgenommen werden,
welche dann dem grossen Anliegen zum Durchbruch verhelfen. Opposition
hin oder her, das ist
dann bedeutungslos.
Diese Problematik ist einer der grössten Stolpersteine auf dem Wege
der Türkei in die
Demokratie, keineswegs eine Erfindung der regierenden AKP, sondern
jahrzehntelange
Tradition im politischen Alltag.
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