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Wahlen in der Türkei: Erdogan hat sich verzockt (1)

In einer Woche werden wir in den Medien die Ergebnisse  der türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen aus den Nachrichtentickern der deutschsprachigen Medien erfahren. Eine Wahl, welche anfänglich als sichere Nummer für Erdogan galt, entwickelt sich zu einem Krimi, was die Parlamentsmehrheiten, aber auch das Amt des Staatspräsidenten betrifft. Die Umstände, wie es zu dieser vorgezogenen Wahl kam, habe ich in meinem letzten Beitrag beschrieben. Ergänzen könnte man heute:

  • Für Wirtschafts- und Finanzministerium war offensichtlich absehbar, dass eine Wirtschaftskrise unmittelbar vor der Türe steht, welche sich negativ auf die AKP-Wahlchancen auswirken könnte. Je früher Wahlen, um so besser lässt sich dies kaschieren.
  • OHAL (Ausnahmezustand) bis zum regulären Wahltermin 2019 weiter zu verlängern, ist kaum vermittelbar. Eine Aufhebung würde jedoch einer Machtbeschränkung Erdogans gleichkommen, da erst mit dieser Wahl die präsidialen Vollmachten für das Staatsoberhaupt wirksam werden.
  • Mit Übernahme der Dogan Medien-Gruppe (die einzige große und mehr oder weniger unabhängige Mediengruppe der Türkei) im Frühjahr konnte das Meinungsmonopol der AKP gefestigt werden.

Viele Jäger sind des Hasen Tod

Um ganz auf sicher zu gehen, ging Erdogan eine Wahlallianz mit der kränkelnden rechtsnationalen MHP ein, welche Gefahr lief, unter der 10%-Hürde zu bleiben und damit aus dem Parlament zu fliegen. Mit dieser Wahlallianz bestand für die AKP die Option, mindestens 6 -8% zusätzliche Wählerstimmen  zu holen und gegenüber einer zerstrittenen Opposition auf der sicheren Seite zu sein.

Dass die Oppositionsparteien mit einer starken Antwort auf diesen Plan reagieren könnte, wurde von den AKP-Strategen wohl zu wenig einkalkuliert. Nach dem Motto "das können wir besser" wurde eine Wahlallianz aus CHP, Demokrat Partisi, IYI-Partisi, Saadet Partisi,  gegründet und jede Partei stellte für die erste Runde einen Präsidentschaftskandidaten. Die beiden letztgenannten Parteien schwächen die Wählerbasis der MHP, welche zu implodieren droht, aber sprechen auch die religiöse Basis der AKP an. In keinem Bündnis befindet sich die Kurdenpartei HDP, welche Erdogan die letzten Wahlen vermasselt hat, indem sie ebenfalls ins Parlament einzog,  sich auch jetzt wieder in einem Band zwischen 9-12% bewegt. So sieht sich die AKP heute einer Allianz gegenüber, deren Mitglieder alle ( nicht sicher HDP) ins Parlament einziehen werden, und welche mit eigenen Kandidaten außerdem sehr aktiven Wahlkampf in Sachen Staatspräsidentenamt machen. 
Alleine diese Konstellation brachte in Wählerumfragen sehr schnell Ergebnisse, welche auf eine äußerst knappe Parlamentsmehrheit der AKP/MHP hindeudeten. In den letzten Wochen gibt es diese Mehrheit nicht mehr, sofern die HDP die 10%-Hürde schafft. Erdogan steht also mit seiner AKP  mit dem Rücken zur Wand, riskiert, dass das Parlament von der Opposition dominiert wird.

Muharrem Ince - der Glücksfall für die CHP, Albtraum für Erdogan

Nach 6 verlorenen Wahlen unter dem blassen Kemal Kilicdaroglu hat sich der Fraktionsvorsitzende Muharrem Ince als Herausforderer in Position gebracht und dies auch im Parteivorstand durchsetzen können. Bereits heute kann man sagen: Für die CHP in der Auseinandersetzung mit Erdogan ein Lotto-Sechser, denn Ince macht taktisch DAS, was früher ein Markenzeichen Erdogans war, jedoch besser und sachlicher:
  • Als Erstes legte er seine Partei-Rosette ab und knüpfte sich den Türkei-Sticker ans Revers. "Ich trete an als Staatspräsident aller Türken und nicht einer einzelnen Partei. Ein kluger symbolischer Akt mit Wirkung. 
  • Was dann folgt, beschreibt ein Kommentator sinngemäß: Im Fußball würde man sagen, Messi ist 5 Jahre lang auf der Ersatzbank gesessen - und nun wird er eingesetzt.
  • Auf Polemik von Erdogan reagiert er innerhalb von 24 Stunden mit Gegenpolemik, aber meistens verbunden mit konstruktiven Vorschlägen oder Sachargumenten
  • Erdogans Merkmal war, die Medien derart mit Reden zuzumüllen, dass für andere Infos kein Platz mehr blieb. Ince macht dies besser, intensiver, vor allem aber auch witziger. Plötzlich erhält der Kampf um das Präsidentenamt auch sowas wie Unterhaltungswert, die öffentliche Aufmerksamkeit steigt.
  • Vom ersten Tag an absolvierte Ince täglich mehrere Wahlmeetings, mitten im Ramadan. Wenn nötig auch nachts um 22 Uhr und später. Stimmungsvolle Bilder, angriffige Reden, konkrete Kritik an der Wirtschaftspolitik und immer wieder: Erdogans Aussagen werden widerlegt und zwar so, dass dies von den Zuhörern auch verstanden wird. Das AKP-Kalkül, der Ramadan werde eine ruhige Wahlkampfzeit, ging nicht auf - ganz im Gegenteil: Ince führte auf Video-Wänden Erdogan mit seinen eigenen Aussagen vor, setzte die Regierungspresse unter Druck, weil sie nicht über Meetings berichtete und hatte nach 2 Wochen sein öffentliches Image: Einfacher Mann, studiert, nahe am Volk, welcher sich mit dem übermächtigen Erdogan anlegt.
  • Erdogan selbst fand keine richtigen Antworten und geriet ganz schnell in die Defensive. Ince diktierte die Themen, Erdogan musste kontern, Ince widerlegt den Konter. Damit zwang und zwingt er Erdogan und die AKP immer stärker auf die Schiene, ausfällig werden, Ausgrenzung, Terrorverdacht usw. Das bewährte Muster aus früheren Wahlkämpfen. Gleichzeitig leistete sich Erdogan gewaltige verbale Patzer, historische Verwechslungen, verfälschte Darstellung eigener Leistungen, welche jeweils an den Ince-Meetings genüsslich vorgeführt und widerlegt wurden.
  • ..und immer wieder macht Ince aus Beleidigungen der Gegner ein Markenzeichen für seine Kandidatur. Früh in der Kampagne wurde er mehrfach  "Gariban" genannt (=armer Mann, aber auch einfacher Trottel) . Was macht Ince? "Ja, ich stamme aus einem Dorf, bin ein einfacher Mann - und habe einen Hochschulabschluss! Wo ist der Abschluss von Erdogan? Und dieser Gariban wird dich, Erdogan, aufs Altenteil schicken!" Erklärung: Das fehlende Diplom Erdogans ist seit Jahren ein Thema, denn eigentlich ist dies Voraussetzung für das Amt des Staatspräsidenten. 
  • Die Marke Erdogan, international nicht besonders hoch eingeschätzt, wurde mit dem Trommelfeuer Inces auch im Inland arg ramponiert. Hier rächt sich nun für die AKP die Machtkonzentration auf eine Person. Und: Nur Erdogan vermag die Maßen zu locken. Doch auch dies lief schon besser. Mehrmals wurden angekündigte Meetings um Stunden verschoben, weil einfach zu wenig Leute da waren. 
Wie tief der Schock sitzt, mag folgendes Beispiel zeigen: Seit Wochen fordert Ince eine öffentliche TV-Debatte mit Erdogan, der auch seine Berater mitbringen könne. Er wolle über Wirtschaft, die Zukunft der Jugend und der Türkei sprechen.  Der Druck wurde immer größer, sodass sich Erdogan am vergangenen Wochenende gezwungen sah, Stellung zu nehmen: "Ince will mit einer solchen Debatte nur ein höheres Rating in der Öffentlichkeit. Dazu bieten wir keine Hand".   Ince wiederum kontert kühl und bleibt bei seiner Forderung: "Dein Solo-Auftritt im Fernsehen hatte einen Beachtungsgrad von 14%. Meiner lag bei über 40%. Der Wetterbericht hatte sogar ein höheres Rating als dein Auftritt. Eine solche Debatte würde also vor allem dir nützen."

Es ist die Strategie der Nadelstiche, welche die AKP offensichtlich zermürbt, aber gleichzeitig zu einem immer aggressiveren Klima führt. Dazu wiederum hat Erdogan selbst beigetragen, indem er in geschlossenem Rahmen dazu aufforderte, alles zu unternehmen, dass die HDP unter 10% bleibe.  Wer die AKP-Fanatiker kennt, weiß, dass eine solche Aufforderung sehr weitgehend interpretiert wird. Dieses Video könnte in der zweiten Runde der Präsidentschaftswahl durchaus eine entscheidende Rolle spielen, denn was Erdogan hier von sich gibt, geht weit  über Wahltaktik hinaus. Die Opposition wirft ihm vor: Aufruf zur Wahlverfälschung. Seine Hypothek dabei: Er ist nicht einfach Vorsitzender der AKP, sondern eben auch Staatspräsident.

Interessant für Wahlbeobachter

Es ist klare Aufgabe der internationalen Wahlbeobachter, die Medienpräsenz der einzelnen Parteien in den Staats- und Privatmedien unter die Lupe zu nehmen. In den Staatsmedien ist die AKP mit über 50% Anteilen vertreten, die CHP mit um die 20%, der Rest nur marginal. In den AKP-nahen Privatmedien (dazu gehören sehr viele Fernsehstationen) läuft volle Erdogan-Berichterstattung und so gut wie keine Beiträge zur Opposition, Ausnahme ntv.

Erdogan hatte dieses Wochenende sein großes Yenikapi Meeting in Istanbul. Laut Anadolu Ajans fanden sich hier 1,3 Mio Menschen ein. Eine logistische Großleistung der Stadtverwaltung Istanbul. Am Sonnabend 23.6. wird Muharrem Ince auf demselben Platz seine Abschlussveranstaltung abhalten. Es wird interessant sein, ob durch die Stadtverwaltung dieselbe Transportlogistik aufgebaut wird, denn der Herausforderer will 2 Mio Leute mobilisieren. 


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