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Nahost "Erfolgsstory"(4): Türkei

Ich möchte nicht zu weit in die Geschichte zurückgreifen, sondern hier genau so wie bei den anderen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg beginnen. Dieser wurde ja vom Osmanischen Reich als Verbündeter Deutschlands bestritten und demzufolge auch verloren. Im "diktierten" Friedensvertrag verlor die Türkei alle ausseranatolischen Gebiete und hätte auch als Land unter den Siegesmächten aufgestückelt werden sollen.

Diesem Plan stellte sich Mustafa Kemal Atatürk entgegen, begann seinen Protestmarsch, wurde von den Besatzungsmächten als Verhandlungspartner akzeptiert und handelte territorial die heutige Türkei aus. 1923 wurde die heutige Republik gegründet und Atatürk als Gründer schwebte als eine Art Retter mit beinahe gottähnlichem Nimbus und entsprechender Verehrung bis 2001 über dem gesamten politischen und gesellschaftlichen Leben.
Bis heute ist der Versuch der Zerschlagung des Restosmanischen Reiches  durch die Siegermächte in der Türkei  ein politisches Trauma, auf welchem immer wieder die populistisch vorgetragene West-Feindlichkeit aufbaut. Reduziert wird das im Inland auf die Losung: Nur der Türke kann der Türkei helfen.

Gestützt und zelebriert wurde dieser Kult durch die noch heute existierende CHP und das Militär. Letzteres war dafür verantwortlich, dass mehrmals Regierungen, welche vom Kurs Atatürks abzuweichen drohten, weggeputscht wurden. Trotzdem entwickelte sich eine immer stärkere religiös geprägte Bewegung, welche dann 2002 nach einer schweren Wirtschaftskrise auch mit einem satten Wählervotum an die Macht kam. Seither wird die Türkei geprägt durch die AKP mit deren Ministerpräsidenten (2002-2014) und heutigem Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan.

2002-2005
Betont westlich orientierte Politik, intensive Verhandlungen mit EU, welche 2005 vorschnell die
Aufnahme von Verhandlungen zum Vollmitglied ankündigte (historischer Fehler Verheugens)

2005 -2007
Gestärkt durch diesen Verhandlungserfolg  begann die Regierung, das Militär von den Hebeln der Macht zu verdrängen. Rückversichert konnte sich die AKP bei EU und USA fühlen. Wirtschaftlich beeindruckte das Land mit Wachstumsraten und wurde für Anleger attraktiv. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Türkische Exporte nach Ländern/Regionen 2011

2007 - 2011
Neben der wirtschaftlichen Entwicklung, welche weiterhin rasant verlief, (massiv beeinflusst von staatlichen Wohnungsbauprogrammen, finanziert durch Privatisierungen, aber auch eine enorme Privatverschuldung der Haushalte), stand die Entmachtung des Militärs zu oberst  in der politischen Agenda.. Unter dem Stichwort Ergenekon wurden  ab 2007 hunderte von Spitzenmilitärs mit dem Vorwurf des geplanten Umsturzes verhaftet. Nach jahrelanger Untersuchungshaft und Prüfung der Unterlagen fanden die Prozesse 2013/14 statt., lebenslängliche Haftstrafen wurden ausgesprochen.

Damit war der letzte Widerstand gegen die Abkehr vom System Atatürk gebrochen und Erdogan mit seinem außenpolitischen Berater Davutoglu (inzwischen pro forma Ministerpräsident)  konnten an die Umsetzung ihrer geopolitischen Strategien gehen. Das entstandene Vakuum in der Militärführung wurde mit AKP-nahen Leuten gefüllt.

Seit 2009 verfolgt Erdogan die Agenda 2023: Eine neue Türkei zum 100-Jahr-Jubiläum der Republik.

2009 Arabischer Frühling - der Neo-Osmanische Traum

Das osmanische Reich, eine Zeittafel

Ab 2009 zeichnete sich ab, dass verschiedene Länder Nordafrikas politisch auf wackligen Füssen standen. Bereits zu diesem Zeitpunkt begann sich die Türkei wirtschaftlich in mehreren dieser Staaten zu engagieren. Als vom Westen gelobte islamische Demokratie mit "modernen" Strukturen nahm sie für sich eine Musterstellung in Anspruch, mischte sich auch durchaus in die politische Diskussion der betreffenden Länder ein. 

Gleichzeitig entwickelte der damalige Außenminister und heutige Ministerpräsident Davutoglu die "Null-Probleme" Strategie für die nordafrikanischen und arabischen Ländern. Damit versprach sich die politische Führung eine unangefochtene  Vormachtsstellung im Mittelmeerraum.
Innerhalb von 2 Jahren scheiterte diese Strategie jedoch kläglich. Statt Null-Probleme, Nur-Probleme.
Statt Vormachtstellung fand sich die Türkei in der Isolation  und musste auch zur Kenntnis nehmen, dass sie international an Bedeutung und Glaubwürdigkeit verlor.

Gründe für das Scheitern:
In der arabischen Welt gilt Erdogan als sprunghaft, nicht verlässlich, zwischen Ost und West 
lavierend, wenn er sich Vorteile verspricht, Macht besessen. Dazu kommen Vorurteile und Erinnerungen aus der Zeit des Osmanischen Reiches, wo es auch recht blutig zu und her ging.

ab 2012: Klare Islamisierung zwecks politischer Vormachtsstellung
Rund 95% der türkischen Bevölkerung sind Muslime. Es ist also nichts gegen einen muslimisch
geprägten Staat einzuwenden.

Was sich in der Türkei in den letzten 3 Jahren jedoch deutlich abzeichnet ist etwas völlig Anderes:
Unter dem Deckmantel der Religion wird hier ein neoliberales Wirtschaftssystem angeheizt, welches den Westen wirtschaftlich, den Osten ideologisch und letztlich wieder wirtschaftlich und politisch an die Türkei binden soll. Es geht also um Wirtschaftsmacht, welche sich politisch in bare Münze umsetzen lässt. 

Je schwächer, je politisch instabiler die Nachbarstaaten, um so mehr Spielraum entsteht
für die Türkei, mit diesem Gefährt ihre Interessen einzubringen. Der Balance-Akt:
Springt der Westen ab, geht  wirtschaftlich die Luft raus und steht die Türkei selbst vor enormen Problemen. Deshalb hält man sich auch die Kanäle nach Russland, in den Iran offen. Diese Drohung wirkt nach Westen.

Die Regierung in Ankara hat sich (auf anraten des Staatspräsidenten, der eigentlich vom Gesetze her repräsentative Pflichten hat....)  innerhalb Wochenfrist entschlossen, ab Sommer 2015 osmanisch als Pflichtfach in den Schulen einzuführen. Damit wendet man sich der arabischen Schrift zu und verlässt das, was Atatürk 1923 als deutlichen westlichen Richtungsentscheid eingeführt hat.


Westen:
Nato-Mitgliedschaft: Als Mitglied pokert die Türkei hoch um jeden Einsatz und lässt sich ihre Bereitschaft zur Teilnahme oder Bereitstellung von Basen mit milliardenschweren Rüstungslieferungen oder -Krediten durch die USA versüßen.

Die technische Zusammenarbeit mit Nato-Partnern führt aber auch dazu, dass die Türkei inzwischen selbst Kriegsmaterial oder in Lizenz baut und exportiert.

EU-Mitgliedschaft: 
Heute spricht eigentlich niemand mehr von einer Vollmitgliedschaft der Türkei.
Dieser kann das insofern egal sein, als auch für die Periode 2014-19 von der EU 4,5 Mia € an Heranführungshilfen bereit gestellt sind. Es lohnt sich also, im Gespräch zu bleiben. (Seit 2002 sind so mind. 25 Mia EU-Gelder in die Türkei geflossen)

Auf Grund bestehender Pipelines und neuer Projekte sind der EU gegenüber der Türkei die Hände gebunden. Hier besteht eine offensichtliche wirtschaftliche Abhängigkeit. Nur so lässt sich erklären, dass die innenpolitischen Vorgänge der  letzten 2 Jahre ohne wirkliche Sanktionen der EU stattfinden konnten. Im Weiteren ist die Türkei für Deutschland ein wichtiger Handelspartner, wie man der folgenden Grafik entnehmen kann:



Nahost:
Starker Einfluss auf die Destabilisierung Syriens. Unterstützung der islamistischen Kräfte. Fühlte sich 2013 von Syrien wegen Giftgas bedroht und erhielt von Nato Patriots, durch deutsche Truppen betreut. Damit war die Nato mit im Boot.... Allerdings scheitert der türkische Vorschlag nach entmilitarisierter Zone im Norden Syriens .Da wäre dann die Türkei bereit gewesen als Nato-Schutzmacht aufzutreten  (und ihre eigenen Interessen wahrzunehmen?...)

Im Sommer 2014 wird weiterhin von Waffentransporten über die syrische Grenze, von Verwundetenbetreuung islamistischer Kämpfer in Istanbul, von islamistischen Kommandostäben auf türkischem Boden gesprochen.

Gute Kurden, schlechte Kurden:
Während die syrischen Kurden generell als Terroristen und mit den türkischen "PKK-Kurden" gleichgestellt werden, hat die Türkei mit den teilautonomen irakischen Kurden Erdöllieferverträge (am irakischen Staat vorbei) abgeschlossen, sogar eine Pipeline ist geplant. Schwere Proteste waren und sind die Folgen.

Jetzt kündigt die Türkei an, sie plane, den Irak im Kampf gegen die Aufständischen (ohne den Namen islamistischer Staat zu erwähnen) zu unterstützen.

Der Iran-Boykott des Westens wird durch die Türkei damit unterlaufen, dass gelieferte Waren in Gold getauscht und nicht in Dollar verrechnet werden. Das bezieht sich auch auf die Gas-Lieferungen, auf welche die Türkei dringend angewiesen ist. Proteste des Westens?

Der EU-Boykott Russlands interessiert den EU-Beitrittskandidaten Türkei so gut wie nicht. Derzeit exportiert die Türkei Landwirtschaftsprodukte im großen Stil und für gutes Geld nach Russland. Proteste der EU?

Atommacht?
Geplant sind zwei Atomkraftwerke. Eines in Akkuyu, gebaut und finanziert durch Russland,
Erwähnenswert: Auch die Kosten für dieses zweite Kraftwerk sollen von Russland beglichen werden.
Es muss also viele Gründe geben, dass Russland in dieser Form beim Nato-Partner Türkei aktiv wird. Man könnte zum Beispiel von Techno-Transfer sprechen.

Aufhorchen lässt der folgende Bericht aus der Welt.

Daraus kann man Folgendes Lernen

Die Instabilität des Nahen Ostens ist begründet und geprägt durch geopolitische UND wirtschaftliche Interessen Außenstehender. Bis heute ließe sich folgende Kette aufstellen: Iran-Afghanistan-Irak-Syrien.  (Ich klammere das Thema Israel in diesem Zusammenhang bewusst aus, da zu komplex.)

In allen diesen Ländern liefen dieselben Prozesse ab: Massive Einflussnahme des Westens oder Russlands, inzwischen auch Chinas, Förderung, finanzielle Hilfe, um wirtschaftlichen Profit zu erzielen, politisch Einfluss zu gewinnen. Irgendwann kollabierte das alles oder musste durch Sanktionen oder militärische Intervention zum Kollabieren gebracht werden, da das Land der Kontrolle der Geldgeber und deren Interessen entglitt.

Die Geschichte des Irans, Afghanistans, des Iraks und Syriens haben deutlich gezeigt, WANN diese Entgleisung jeweils stattgefunden hat. Der Grad der militärischen Rüstung und der Hang zur absolutistischen Machtausübung waren klare Indikatoren. Doch selbst dann hat man gestrauchelten Diktatoren zuerst mal wieder auf die Beine geholfen.... DAS ist die Geschichte des Nahen Ostens seit nunmehr 80 Jahren. Ein Kriegsfeld... und es droht erneut zu eskalieren.

NATO und EU müssen bezüglich der Türkei objektiv und ehrlich, losgelöst von wirtschaftlichen und geopolitischen Überlegungen folgende Frage beantworten: 

Auf welchem Kurs befindet sich unser Partner Türkei ?
Sitzt er noch im selben Boot?

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